Kinder des Lichts
Da sprach das Volk zu Jesus: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: Der Menschensohn muss erhöht werden (also ans Kreuz gehoben werden)? Wer ist dieser Menschensohn? Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht. Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, damit ihr Kinder des Lichtes werdet. Das redete Jesus und ging weg und versteckte sich vor ihnen. (Joh 12,34-36)
Liebe Schwestern und Brüder, der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack weist auf dem Hintergrund seiner Untersuchungen unermüdlich darauf hin, dass es außerhalb von Kirche oder religiöser Gemeinschaft fast kein religiöses Leben gibt. Es stimmt nicht, dass die Kirchen sich leeren, aber Religion außerhalb der Kirchen boomt. Was meint er damit? Dass es seit Jahren ein verstärktes Interesse an Religiösem gibt und alle Arten von spiritueller Sinnsuche teilweise höchst bunte Blüten treiben, das wissen wir ja. Aber warum soll das keine Religion sein?
Dazu Zitat: "Was als Religionsboom verkauft wird, ist eine Religion, die weitgehend ohne Gott auskommt. Konjunktur haben esoterische Suchbewegungen, die eine vage Sinnsuche des ortlos gewordenen und vielfältig verunsicherten Individuums der späten Moderne anzeigen, aber nicht ein substantielles Interesse an religiöser Kommunikation und an einer Lebensführung, die von einer religiösen Grundhaltung bestimmt wäre."
Im Klartext: Der Mensch von heute ist nicht an einer Religion interessiert, die ihm in bestimmter Weise entgegenkommt und ernstgenommen werden will, als Paket quasi, mit bestimmten Dingen, die man da glauben muss, und mit einem ganzen Set von Ritualen und Praktiken. Das alles ist heute vehement in der Krise. Was der Mensch von heute will und sucht, ist gewissermaßen fast food, das, was ihm jetzt und sofort Sinn gibt. Was ihm auf seinem Weg durch die unsichere und in tausende von Optionen zersplitterte Lebenswirklichkeit hilft, nicht unterzugehen.
Wir leben in einer Zeit der höchsten Verunsicherung. Nicht erst Ukrainekrieg, Energiekrise und Klimawandel haben zu dieser Verunsicherung geführt, sondern vor allem die Digitalisierung der Welt. Durch sie sind nämlich die Optionen, die Möglichkeiten, die man in jeder Sekunde seines Daseins hat, ins Unermeßliche gestiegen. Wenn aber alles möglich ist, dann ist auch nichts mehr sicher. In dem Urwald der Möglichkeiten seinen Weg zu finden und sich zu optimieren und anzupassen, das trainieren heute schon Kinder im Grundschulalter. Möglichst früh mit dem Tablet, weil man muss ja lernen, in der digitalen Welt zurechtzukommen. Als ob man das nicht im Handumdrehen in wenigen Tagen lernen könnte, wenn es nötig ist!
Sich optimieren und anpassen und dabei alle möglichen Hilfsangebote in Anspruch nehmen, das ist heute Überlebensstrategie. Und zu den Hilfsangeboten zählt auch die Spiritualität, also vereinfacht gesagt der Umgang mit etwas Jenseitigem, das mir Halt gibt und Orientierung. Das kann ein Mix sein aus fernöstlichen Religionen, Homöopa-thie, Formen der Lebensberatung, der Esoterik und auch christlicher Elemente. Eben alles, was mir das Gefühl gibt, wichtig zu sein und etwas zu bedeuten. Der heutigen Spiritualität, die ja tatsächlich boomt, geht es vor allem darum: Dem Ich das Gefühl zu geben, ganz zu sein und etwas zu bedeuten in diesem Meer der Bedeutungslosigkeit. Was dieses Gefühl vermittelt, das wird behalten und praktiziert.
Machen wir uns mal klar, was hier passiert: Der Maßstab für richtig und falsch, für das, was ich für mich akzeptiere und was ich ablehne, bin ICH. Das haben wir so trai-niert, dass es kaum jemandem mehr auffällt, stimmt's? Der Blick geht immer und ständig zum eigenen Ich. Ich entscheide. Was mir hilft, wird behalten, wovon ich gerade nichts habe, wird fallengelassen und vergessen. "In sich selbst verkrümmt" - so haben das schon die Christen in alter Zeit genannt. Diese Haltung ist überlebensnotwendig im Meer der Möglichkeiten, so scheint es.
In Sachen der Religion ist sie aber falsch. Warum? Weil Religion das ist, was mir von außen in einer bestimmten Form entgegenkommt. Von außen, das heißt: Ich bin nicht der Entscheider. Es kommt auf mich zu mit einem ganz bestimmten Anspruch. Und in einer bestimmten Form, weil Gott nun mal eine bestimmte Form hat, in der er sich of-fenbart hat. Und diese Form gehört zu dieser Religion dazu, welche Religion es auch sein mag. Religion ist konkret. Faßbar. Beschreibbar. In Worten, Ritualen und sichtba-ren Orten. Das Kennzeichen heutiger Spiritualität dagegen ist geradezu die Unkonkretheit. Das Unbestimmbare wird möglichst unbestimmt bearbeitet. Jeder soll sich denken können, was er will, damit es möglichst gut zu seinem eigenen Leben passt.
Auch in der Kirche. Auch wir sind Kinder unserer Zeit, die Veränderungen gehen nicht spurlos an uns vorüber. Es fängt ja schon damit an, dass heute kaum jemand noch von sich sagt: Ich glaube an Jesus Christus. Der ist vielen schon zu konkret. Jesus hat ein Gesicht, an ihm hängen viele Geschichten und Ereignisse wie das, das wir vorhin im Evangelium gehört haben. Wer den Marktplatz der religiösen Möglichkeiten anschaut, mit denen sich die Kirche längst auf die spätmoderne spirituelle Markt-lage eingestellt hat, wird womöglich finden, dass hier das Unbestimmbare oft auf möglichst unbestimmbare Weise bearbeitet wird. Nur nicht konkret werden. Das schreckt ab.
Was sagt wohl Jesus Christus, der Herr der Kirche, zu all diesen unseren Versuchen, Sinn und Licht im Dunkel zu finden? Nichts anderes, als was er damals auch schon sagte. Ich bin das Licht. Glaubt an das Licht, solange ihr es habt. Und darum lässt er heute, am letzten Sonntag der Epiphaniaszeit, sein Licht noch einmal ganz hell auf-scheinen. Und hat es doch schon in seiner irdischen Zeit schwer, richtig verstanden zu werden. Was soll das Gerede vom Kreuz, finden seine Anhänger, wo der Christus doch ein irdisches und ewiges Reich errichten soll. Freiheitskämpfer und König soll er sein in den Augen der Jünger, Weisheitslehrer und moralisches Vorbild in den Augen vieler Menschen heute. Immer will man mit ihm etwas anfangen, will man ihn ein-bauen ins eigene Weltbild, dass es passt. Und dass es möglichst wenig weh tut.
Aber weder mit dem Christus, noch mit seinem himmlischen Vater sollen wir Menschen irgendetwas anfangen. Sondern wir sollen ihn, wie er ist, und um seiner selbst willen zur Wirkung kommen lassen. Glauben heißt eben nicht, mit Gott etwas anfangen können. Gott fängt etwas mit mir an, nicht ich mit ihm. Religion kommt mir von außen entgegen. Um das zu verstehen, muss ich aber das tun, was mir am schwersten fällt: mich von mir selbst abwenden, endlich einmal von mir selbst abwenden, und mich Gott zuwenden. Wir sehen es ja in unserem Predigttext, wie der Christus sich von denen abwendet, sich vor denen verbirgt, die mit ihm etwas anfangen wollen: Das redete er mit ihnen und ging weg und versteckte sich vor ihnen. Ihn und seinen himmlischen Vater gibt es nur um seiner selbst willen, zwecklos, absichtslos, ohne warum. Das Licht scheint in der Finsternis. Punkt und Gott sei Dank.
Wie befreiend das ist, Gott machen zu lassen, der etwas mit mir anfängt und nicht ich mit ihm, davon können die vielen Menschen erzählen, die sich darauf eingelassen haben und es immer wieder versuchen. Auch das ist freilich kein Selbstläufer, auch als Christinnen und Christen sind wir Zweifeln und Anfechtungen ausgesetzt. Wir müs-sen immer wieder nach dem Licht suchen, weil wir blind sind. Aber es scheint. Punkt und Gott sei Dank. Vielleicht ist das unsere wichtigste Botschaft in diesen Zeiten der Selbstfindung und Selbstoptimierung: Du musst den Grund deines Lebens nicht erfinden. Es gibt ihn schon. Jemand hat ihn für dich gelegt, für alle Zeit. Mit deinem Gott, der dich geschaffen hat und dich liebt, mit seinem Sohn, der das Licht für die Welt ist, und seinem Geist, der dich tröstet und führt, kommst du durch das Gewirr der Zeit. Du musst Gott nicht suchen oder dir deinen Gott zusammenbauen. Gott ist der, der sucht, und der dich findet und schon gefunden hat. Verlorengehen kannst du nicht.
Da sage einer, die christliche Botschaft sei nicht attraktiv! Frei von Sinnsuche und Kreisen um uns selbst! Die Hände frei für das, was wirklich zählt, nämlich lernen und üben, ein guter Mensch zu werden. Natürlich ist das ein Wagnis. Sich auf diesen Gott einzulassen bedeutet ja, all die anderen möglichen Sinn- und Heilsangebote auszu-schlagen und vor allem: sich selbst jemand anderem in die Hand zu geben. Bedeutet auch, sich verwundert fragen zu lassen von Nachbarn oder Kollegen oder Familienan-gehörigen, warum man sich denn zu diesem Gott hält und ob das nicht veraltet sei. Ihnen zuzuhören, mit ihnen zu leben und ihnen aus dem Evangelium zu erzählen, einla-dend und ohne die eigenen Zweifel zu verstecken, dazu gehört auch der Mut des Glaubens: Geschichten zu erzählen von Rettung und Hoffnung, von Trauer und Ent-täuschung, von den Wundern des Lebens und den Farben der Blumen, von der Sprache der Liebe und dem Gott, der so weit weg zu sein scheint und mit dem man doch über Mauern springen kann.
Glaubt an das Licht, und ihr werdet Kinder des Lichts sein. Das ist Jesu Versprechen. Und weil wir gern ein Zeichen und ein Beweis haben, hat Jesus die Taufe dazugetan, das unverlierbare Band zur himmlischen Welt. Und wir geben, wenn wir taufen, noch eine Kerze dazu oder ein Kreuz an einem Kettchen. Und ich stelle mir vor, wie der Herr des Himmels und der Erde milde lächelt, wenn wir uns daran festhalten, und er liebevoll auf uns herabschaut und auf seine Hand, in der wir uns befinden. Amen.
- Jan Freiwald, 29.1.2023