Aktuelle Predigt

“Er wird den Tod verschlingen auf ewig. Und Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volkes in allen Landen; denn der Herr hat's gesagt. Zu der Zeit wird man sagen: 'Siehe, das ist unser Gott, auf den wir hofften, dass er uns helfe. Das ist der Herr, auf den wir hofften; lasst uns jubeln und fröhlich sein über sein Heil!'“ (Jesaja 25,8f)

Liebe Schwestern und Brüder, 
als wir Kinder waren, lebten wir von dem, was unsere Eltern sagten. Manchmal auch, wenn wir älter wurden, aber vor allem in den ersten Jahren unserer frühen Kindheit - solange wir Kinder waren, galt, was unsere Mutter oder unser Vater sagten. Es gab zwar immer das Maulen und auch den Versuch, sich über das, was geboten oder verboten war, hinwegzusetzen. Doch als wir Kinder waren, lebten wir in diesen Worten der Eltern. Sie waren unsere Welt, sie sagten uns, was gut war und was nicht.

Ich selbst habe zwei Brüder, und wir spielten öfters draußen im Garten oder auf der Straße. Und wenn wir dann mit so manch aufgeschlagenem Knie nach Hause kamen und wenn dann die Tränen liefen, dann war es die Mutter, die sich vor uns hinkniete, uns übers Haar strich und sagte: Wein’ nicht, es wird alles wieder gut. Und in dem Moment, wo sie es sagte, war auch alles wieder gut. Es tat zwar bestimmt noch weh, aber wenn die Mutter es sagte, dann war es auch so.

Und das zu wissen, war gut. Was die Eltern sagten, darauf konnte man sich verlassen, das galt ohne wenn und aber. Ob es nun ein Verbot war oder ein Versprechen: als wir Kinder waren, glaubten wir ihnen. Das hatte zwar den Nachteil: wenn jemand von Ihnen strenge Eltern hatte, dass eben meistens wirklich nichts zu machen war. Was verboten war, war verboten. Aber auf der anderen Seite galt ja auch das Gute, was versprochen war. Man konnte sich drauf verlassen. Versprochen war versprochen.

Und wenn dann die Erfüllung eines Versprechens mal auf sich warten ließ, die Eltern es vielleicht vergessen hatten, dann reichte es völlig, sie daran zu erinnern: Du hast es doch versprochen! Diesen Satz kennen alle Kinder. Schon die ganz Kleinen. So in leicht vorwurfsvollem Ton vorgebracht: Du hast es doch versprochen! Und er wirkt. Denn er ist ein Appell an das Ehrgefühl der Eltern - oder Großeltern. Wer lässt sich schon gerne nachsagen, er hätte ein Versprechen gebrochen?

Unser heutiger Predigttext enthält auch ein Versprechen. Es ist kein gewöhnliches Versprechen. Keines, das wir unseren Kindern geben könnten, ja überhaupt kein Ver-sprechen, das Menschen einander zu geben in der Lage wären. Denn es ist ein Versprechen über Leben und Tod: „Gott wird den Tod verschlingen auf ewig.“ Kurz und knapp, passt in eine SMS oder in eine Zeitungsüberschrift: Gott wird den Tod verschlingen auf ewig. Schicksalsschwere Worte sind das, nicht gerade die Sprache von Zeitungsreportern, obwohl die uns ja auch fesseln wollen mit ihren Schlagzeilen, möglichst fett gedruckt auf der ersten Seite. Diese Worte braucht man nicht fett zu drucken, sie fesseln von selbst. Weil es bei ihnen wirklich um Leben oder Tod geht.

„Er wird den Tod verschlingen auf ewig. Und Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volkes in allen Landen“, schreibt Jesaja. Ja und dann kommt der Satz, den Kinder verwenden, wenn sie Eltern daran erinnern wollen, ein Versprechen einzuhalten: Du hast es versprochen! „Denn der Herr hat's gesagt“, heißt es. Oder auch: Der Herr hat es versprochen, denn bei Gott sind Reden und in Erfüllung gehen eins. Du, Gott, hast es doch versprochen! Du hast es versprochen, dass du den Tod besiegen wirst, dass einmal Tod und Kranksein und Leiden verschwinden werden von der Erde.

Der Herr hat es gesagt. So kurz und knapp, und doch reicht es zur Begründung völlig aus. Auch Jesus hatte vor seiner Verurteilung, schon lange vorher mit seinen Jüngern darüber geredet, dass er leiden müsse und dass man ihn umbringen werde. Und er versprach ihnen auch, dass er am dritten Tage auferstehen werde. Aber seine Jünger waren eben keine Kinder mehr und glaubten nicht einfach so, was man ihnen sagte. Und so musste sie sein Tod, sein bitteres leidvolles Sterben bis ins Innerste treffen. Denn was ihnen am liebsten war, wurde ihnen jäh entrissen.

Auch wir sind keine Kinder mehr und glauben nicht einfach alles, was man uns sagt. Und wir dürfen es auch nicht. Heute weniger denn ja. Vor allem wenn wir in Trauer sind, wenn wir eine Zeit des Leids durchmachen, oder wenn uns gar ein Mensch entrissen wird, den wir lieben, dann erreicht kein tröstendes Wort unser Ohr. Wenn wir so tief in der Trauer versunken sind wie damals die Frauen am Grab, dass wir nichts mehr hören und sehen wollen, dann helfen Worte nichts. Denn dann bleibt die Welt stehen und die Zeit geht nicht mehr weiter. Und darum konnten die beiden Frauen, die am Ostermorgen das Grab Jesu aufsuchten, gar nicht anders als stumm und erschüttert ihren Weg gehen. Sie hatten keine Hoffnung. Sie hatten das Versprechen Jesu vergessen, dass der Tod nicht das letzte Wort hat.

In diesem Moment der Verzweiflung geschieht es, dass der Engel Gottes herabsteigt vom Himmel und sich deiner Trauer erbarmt. Es geschieht, dass er ein Stück deines Weges mit dir geht, dass er dich tröstet und ein Bild von Gott enthüllt, das du in dir trägst, das aber lange verschüttet lag: Gott steigt herab und wischt ab die Tränen von deinem Gesicht. Er streicht dir übers Haar und sagt: Steh auf, alles wird gut. Und in dem Moment, wo er es sagt, ist es auch so.

Und dann kann es geschehen, dass der Tod auf einmal keine Macht mehr hat, dass er überwunden ist mitten im Leben. Denn der Tod beginnt ja nicht erst, wenn alles zu-ende ist. Nicht erst, wenn unser Dasein hier auf Erden ein Ende hat. Der Tod ist schon da mitten im Leben. Er ist überall da, wo wir Abschied nehmen, Abschied von Altvertrautem, Abschied von dem, was wir einmal waren und einmal konnten. Überall dort will der Tod bekämpft werden, wo das Leben nicht weiterzugehen scheint.

Auch für die Frauen am Grab schien das Leben nicht weiterzugehen. Ihre Welt war finster. Es war etwas von ihnen selbst gestorben, das Licht des Lebens erloschen, die Zeit stehengeblieben. Und da nähert sich Gott. Wo geweint wird, nähert sich Gott. Dort bekommt er etwas zu tun, dort ist er am Werk, dort berührt er dich, manchmal nur so leicht wie mit einem Flügelschlag. Aber du spürst ihn, dass er da war. Mitten im Leben, das so viele Tode bereithält, spürst du ihn, wenn er aufrichtet, Tränen ab-wischt und Wunden heilt. „Siehe, alles wird gut, denn ich habe es gesagt.“

Das kann man nicht aus der Ferne sagen: Siehe, alles wird gut. Dazu muss man dem nahe kommen, den man trösten will, und sich dem, was das Leid verursacht, aussetzen. Darum geht Gott nicht aus der Ferne gegen den Tod vor. Nicht aus der Ferne befiehlt er ihm, sich zurückzuziehen. Sondern: Er wird den Tod verschlingen. Er kommt ganz nahe, lässt sich auf einen Kampf ein. Gott wird den Tod verschlingen - das heißt: er wird ihn ertragen und erleiden; aber er wird ihn dann auch nicht mehr loslassen. Mit Ostern endet die Geschichte des Todes, seine Zeit ist abgelaufen. Am Ostermorgen am leeren Grab beginnt eine andere Geschichte, eine neue, eine lebendig machende Ge-schichte. Es ist die Geschichte des Sieges über den Tod.
Noch beherrscht er uns, und irgendwann wartet er auf uns alle noch. So mag er warten! Denn der den Tod verschlingt, wartet dort auch. Er ist bei dir bei den vielen kleinen Toden, die du sterben musst mitten im Leben, kniet neben dir und sagt: Steh auf, alles wird gut. Er wird auch bei uns sein in unserer letzten Stunde. Auch wenn wir sterben, ist er da und sagt: Steh auf! Ich habe den Tod verschlungen.

Als wir Kinder waren, betete unsere Mutter mit uns am Abend den Liedvers: „Gott lass euch selig schlafen, stell euch die güldnen Waffen ums Bett und seiner Engel Schar.“ Und wir glaubten ganz fest, Gottes Engel stünden neben uns und bewachten uns. Er steht immer neben dir, der Engel, du merkst es nur manchmal nicht. Der Engel Gottes, der den Tod verschlingt, der dir den Stein vom Grab wälzt und sich darauf setzt. Amen.
 

 

- Jan Freiwald, 31.3.2024