Liebe Schwestern und Brüder, auf was für Ideen manche Leute so kommen! Ich habe letztens einen Freund getroffen, und der fragte: „Du hast doch Theologie studiert. Was ist eigentlich der Heilige Geist?“ …. „Der Heilige Geist ist die „unmittelbare religiöse Produktivität des Einzelnen“.“ „Ach“, sagt mein Freund. „Genau“, sag ich. „Ernst Troeltsch“. „Und wer ist das?“ „Ein Theologe. – Man könnte auch vom Heiligen Geist als „im Glauben erschlossene faktische Möglichkeit eines neuen Lebens“ sprechen.“ „Das hat wahrscheinlich auch ein Theologe gesagt…“ „Richtig. Rudolf Bultmann. Und weißt du, wie der Theologe Emil Brunner den Heiligen Geist nannte?“ „Na…?“ „Ein Schreckgespenst für Theologen. Das Blöde am Heiligen Geist ist ja, dass er in keine Schublade im Hirn passt. Wenn du einen Juden fragst, erzählt er dir von der ruach, die in der Schöpfung über den Wassern schwebte. Fragst du eine Feministin, er-zählt sie, dass die Heilige Geistin die weibliche Seite Gottes repräsentiert. Für einen Charismatiker gibt es Heiligen Geist nur mit Zungenreden, Lobpreis und erhobenen Händen. Für eine Mystikerin nur in Versenkung, Stille und gefalteten. Die eine spürt den Heiligen Geist in sich, in neuer Hoffnung, Kraft und Liebe. Der andere spürt ihn außer sich, in Gemeinschaft, in Solidarität und Gerechtigkeit.“ „Und was stimmt nun?“ fragt mein Freund. „Alles.“
Liebe Gemeinde, das ist ja auch das Schöne am Heiligen Geist, dass er mehr Facetten hat, als unsere Augen wahrnehmen können oder wollen. Wo der Geist ist, ist Freiheit, Freiheit auch von unserem Zwang, Gott in dogmatische oder kirchliche Gedankengebäude einsperren zu wollen. Der Heilige Geist ist nicht das Fundament unter der Kirche, sondern der Sprengstoff. Er sperrt sich gegen Strukturverkrustungen, gegen Engstirn- und herzigkeit. Er weht, wo er will, er bläst denen ins Gesicht, die allzu genau zu wissen glauben, wie der liebe Gott funktioniert, oder auch die Kirche.
In den letzten Monaten hört und liest man immer wieder Berichte, wie die Kirchen hierzulande schrumpfen, weil die Zahl der Kirchenaustritte unvermindert hoch ist. In diesen Meldungen klingt auch immer eine gewisse Häme durch, das hätten sich die Kirchen selbst zuzuschreiben. Schließlich kehrten die Leute den Kirchen ja nur des-halb den Rücken, weil sie nichts von ihnen erwarteten. Und das müsse dann ja wohl an den Kirchen selbst liegen. Sie blieben, so heißt es, den Erweis ihrer Relevanz für immer mehr Menschen schuldig. In der ZEIT schrieb eine Redakteurin sogar: "An Pfingsten kommt der Bibel zufolge der Heilige Geist auf die Menschen herab. Geis-tesgegenwart aber muss die Kirche selbst beweisen."
Autsch. Wenn ich so etwas lese, dann stellen sich bei mir sämtliche lutherischen Nackenhaare auf. Ich muss hier gar nichts beweisen, liebe ZEIT-Redakteurin, schon gar nicht den Geist. Aber ich kann erzählen, wo er in den letzten Wochen bei uns um die Kirchenecke wehte: Der Geist wurde ausgegossen über die Kinder vom Kindermusical, die voller Inbrunst und mit hellen Stimmen von der gottesfürchtigen Esther sangen. Er kam über die Bewohnerin im Seniorenheim, die ihrer Nachbarin vorlas und ihr Besorgungen machte. Über die Jugendlichen dieser Gemeinde, die auf dem Kirchentag auf durchgesessenen Papphockern beteten und sangen. Über die Konfirman-dinnen und Konfirmanden, die mit schnieken Klamotten und weichen Knien hier standen und sich segnen ließen, über Organistinnen, Bandmusiker und Posaunen-chormitglieder, die zur Ehre Gottes musizierten. Er wurde ausgegossen über Kirchen-vorstände, die berieten, was das Beste für die Gemeinde sei, über Stühlesteller und Kaffeekocherinnen, über Gottesdienstbesucher und Osternachtdurchwacherinnen, über Gemeindebriefausträger und Kleiderausgeberinnen, Seelsorgespaziergänger und Zuhörerinnen, Freitagsmeditierer und Fürbeterinnen. Pars pro toto.
Der heilige Geist lässt sich nicht definieren und auch nicht einsperren. Er weht, wo er will, und meistens ist das auch gar nicht so offensichtlich und für alle sichtbar. Vielleicht ist diese Zeit der Krisen und Unsicherheiten, in der wir uns befinden, gar nicht die Saison für große geistliche Sensationen, sondern für viele kleine Taten der Liebe und Phantasie. Bei manch einem gab es während Corona die Hoffnung, dass Kirche in der Krise ganz groß rauskommt, dass sie endlich zeigt, wie bedeutend und systemrelevant sie in der Not ist. Das alles produziert aber nur heiße Luft und beweist keine Geistesgegenwart. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, heißt es in der Bibel! Nicht jede Frucht des Heiligen Geistes ist groß wie eine Wassermelone, manche haben eher Johannisbeerformat, sind klein und wenig beeindruckend, keine großen Worte und Taten, mit dem ein Staat zu machen wäre, geschweige eine Kirche.
Als vor 2000 Jahren die Ruach über ein Dutzend Männer aus Galiläa ausgegossen wurde, war das ganz großes Kino. Göttliche special effects unterstrichen, was hier geschieht: Gott wirkt in den Menschen, die auf ihn vertrauen, er schafft eine neue Ver-ständnisgrundlage für Gott und die Welt: In einem Zimmermannssohn aus Nazareth, der durch eine mörderische Justiz ums Leben kam, ist er dieser Welt nahe gekommen, in einem kleinen, ganz einfachen Leben hat er gezeigt, dass eine Liebe möglich ist, stärker als jedes Leid, jeder Tod. Und die, die diese Botschaft vor 2000 Jahren hörten, verstanden Gott neu, ganz gleich, woher sie kamen, welche Sprache sie sprachen. Das ist der Anfang unserer Kirchengeschichte, einer Geschichte, die die nächsten 2000 Jahre auf und ab ging, in der es immer wieder Männer und Frauen gab, die aufstanden und ihren Mund für die Armen auftaten, die ihr Leben für die Liebe hingaben, die anderen zeigten, dass Gott nicht in den Büchern der Theologen schläft, sondern über die wacht, die ihn nötig haben, das heißt: über die ganze Welt.
Zwischen diesen Lichtgestalten lebten und leben Menschen wie Sie und ich, Men-schen, die sich durch ihren Alltag wursteln und versuchen, das Beste draus zu machen. Diese Menschen haben die meisten Kapitel der Kirchengeschichte geschrieben. Der Heilige Augustinus und der Doktor Luther, der Professor Bonhoeffer und der Reve-rend Martin Luther King haben oft die Überschriften in unserem Geschichtsbuch ge-schrieben. Den Rest aber füllten andere: Nonnen, die in aller Herrgottsfrühe schwei-gend ihr Bier brauten und die Armen speisten. Bauern, die tagsüber ihre Felder bestellten und abends mit ihren Kindern beteten. Verkäuferinnen, die nicht „Sieg Heil!“ schrien, als ein totaler Krieg ausgerufen wurde und ansonsten Haushaltswaren in Regalen einsortierten. Finanzbeamte, die Akten stapelten und 2-3 Mal im Jahr zur Kirche gingen. In den wenigsten Kapiteln der Kirchengeschichte lesen wir etwas von großem Brausen und schwebenden Flammenzungen. Und trotzdem ist es wichtig, all diese Kapitel wertzuschätzen: Der Geist Gottes wirkt nicht nur in den großen Ereignissen, nicht nur in den Märtyrerinnen, in den himmelhoch Begeisterten und Todesmutigen. Gott wirkt genauso in der Banalität, in der Langeweile, im Zweifel.
Unsere Pfingstgeschichte am Anfang birgt immer die Gefahr, dass wir den Geist nur mit Theaterdonner und Glaubenshelden denken, mit totaler Begeisterung und vollkommener Heilsgewissheit. Aber diese Geschichte ist nur ein Kapitel unserer Kirche. Zuvor zog der Sohn Gottes durch die Welt, wuchs in Nazareth auf und lernte Zim-mermann, die ersten 30 Lebensjahre übrigens still und unerkannt. Er predigte dann und tat Wunder, aber er weinte eben auch in Gethsemane und schrie am Kreuz: Ein Gott der großen Taten und der kleinen Dinge. Seine Auferstehung lies sein Leben in einem neuen Licht erscheinen, bestätigte nicht nur die Macht des wahren Gottes, son-dern auch die Würde des echten Menschen.
Wenn bei uns im Jahr 2025 Helferinnen und Helfer in der Kleiderkammer mit Sy-rern und Afghaninnen zusammenkommen, mit Eritreern, Irakern und Ukrainerinnen, dann bleibt das große Sprachwunder aus. Sie behelfen sich stattdessen mit Dolmet-scherinnen und Übersetzungs-Apps. Und trotzdem wirkt der Geist. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen, zum Beispiel an freundlichen Augen, an dankbaren Gesten, am Gefühl, willkommen und nicht alleingelassen zu sein.
Aller Wahrscheinlichkeit nach sitzt die ZEIT-Redakteurin, die den Beweis der Geistesgegenwart einforderte, gerade nicht unter uns. Vielleicht würde sie jetzt sagen: Mit solchen Predigten schaffen Sie sich selbst ab, Herr Pfarrer! Wenn das der Heilige Geist ist, wozu braucht man dann noch die Kirche? Um dem Geist ein Zuhause zu geben, ein Zuhause unter vielen. Irgendwo muss er ja wohnen in dieser Welt. Doch es ist damit zu rechnen, dass er hier noch andere Wohnsitze hat. Auch wenn manche glau-ben, heute den Geburtstag der Kirche feiern zu müssen: Das Kirchenlied heißt zumin-dest meiner Erinnerung nach: „O komm, du Geist der Wahrheit und ziehe bei uns ein.“ und nicht: „Wie schön, dass ich geboren bin, ich hätte mich sonst sehr vermisst.“ Wir brauchen keine Kirche, sondern Gott. Kirche ist nicht systemrelevant. Heiliger Geist schon. Amen.
- Jan Freiwald, 8.6.25